Bildungsfern? Prozessfern!

Nach einem sehr anstrengendem Hörspiel-Workshop in einer 7. Klasse in Berlin und nach vielen intensiven Gesprächen mit der sehr engagierten Lehrerin denke ich so ungefähr Folgendes: vielleicht ist gar nicht die sogenannte Bildungsferne bestimmter Kids das gravierendste Problem; dass sie also zu wenig Kontakt und Umgang mit „Bildung“ und „Kultur“ im allerweitesten und im bildungsbürgerlich definierten Sinne haben, zu wenig Teilhabe am Bildungssystem, zu wenig role models innerhalb und außerhalb der Familie, zu lange bad screen time etc. 

Das ist natürlich problematisch. Aber darüber hinaus scheint mir die viel größere Tragik eher eine Art umfassende „Prozessferne“ zu sein. Die Kids hatten keinerlei für mich erkennbare Erfahrung darin, einen Prozess auch nur im Ansatz selbstbestimmt zu gestalten und bewusst zu erleben. Das meine ich erstmal in Bezug auf unsere konkrete Hörspiel-Produktion (deren Anforderungen wir nach sehr kurzer Zeit, also nach dem ersten Workshop-Tag, schon sehr weit nach unten angepasst hatten).

Aber diese mangelnde Erfahrung und diese Prozessferne waren eigentlich sinnbildhaft auch für den Umgang der Kids mit sich selbst. Ich hatte sehr oft den Eindruck, sie waren permanent irgendwelchen inneren und äußeren Dämonen ausgesetzt: Mitschüler:innen und peer pressure, Elternhaus, Schulorganisation, FOMO, Pubertät… – fremdbestimmt.

Sie hatten kaum Zugriff auf sich selbst, verstanden und erlebten sich nicht als handelnde, gestaltende, problemlösende Wesen. Sie konnten irgendwie nicht „dranbleiben“, haben stattdessen bei jeder sich bietenden und anderen Gelegenheit zum Handy gegriffen und sich wegkatapultiert – aus ihrer eigenen Hörspiel-Produktion, aus der Situation, aber eben auch und vor allem aus sich selbst. Ausweich-Bewegungen die ganze Zeit. Swipe. 

Wahrscheinlich nicht gelernt und erfahren, nicht vorgelebt, angeboten bekommen. Nicht als wichtiges – wichtigstes – Werkzeug vermittelt bekommen.

Und Schule verstärkt meiner Beobachtung nach im ungünstigsten Fall gerne mal die Unselbstständigkeit, die Fremdbestimmtheit, das Funktionieren. Das Denken und Handeln in formatierten Blöcken, in Fächern, in Noten. Anstatt in Prozessen und Projekten. Ein Teufelskreis.

Wie es ein Kreis nunmal so an sich hat: kein Anfang, kein Ende. Aber man könnte auch sagen: dann ist überall Anfang, man kann überall anfangen. Zum Beispiel eben mit kreativ-künstlerischen Projekten und selbststrukturiertem Arbeiten, mit denen die Kids „Prozessnähe“ entwickeln und damit eben auch einen Zugriff auf sich selbst, Selbstermächtigung; intrinsisch motivierte, nachhaltige Erfolgserlebnisse haben. Und davon noch mehr wollen. Medienpädagogik der erweiterten Art. Boomerang statt Katapult gewissermaßen. Ein scharfes Schwert gegen die Dämonen.

Denn: Alle Schüler:innen, mit denen ich für einen kurzen Moment eins-zu-eins arbeiten konnte, sind da zu ihrer großen Form aufgelaufen, haben gezeigt, dass viel mehr in ihnen steckt als sie es in der Klasse, in der Schule, im Unterricht zeigen können  – und wollen. Haben in sich ganz neue Fähigkeiten und Fertigkeiten entdeckt/erweckt. Rückmeldung der Lehrerin: haben sogar auf dem Weg zum Schulhof darüber diskutiert, wie man diese und jene Stelle in ihrem Hörspiel noch verbessern, perfektionieren könnte. Lerninhalte diffundieren aus dem Klassenzimmer in die Welt… Yesss!

Btw: Alle Hörspiele sind fertig geworden. Und gut.

Ein Gedanke zu „Bildungsfern? Prozessfern!

  1. Hey Marco! Spannender Wechsel der Perspektive! Es ist nicht die Bildungsferne, es ist die Bildernähe, die Flucht in die Bilder, das andauernde Flimmern, das blind macht.
    Danke für die Praxiseinsicht!

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